Daß diese Frage heute wieder in den Vordergrund des Denkens tritt, beweist nur, daß alle sich christliche Kirchen nennenden Heilsanstalten oder Weltanschauungsgebilde durch soziale und ideologische Umwälzungen erschüttert worden sind, die ihren Bestand in Frage stellen oder sogar grundlegend verändern. Von diesen Erschütterungen ist wohl die Gemeinde des Herrn verschont geblieben, aber auch sie ist, gerade weil sie es verstanden hat, sich von institutionellen und sektiererischen Verunreinigungen ihres Wesens frei zu erhalten, den ununterbrochenen Angriffen von Großkirchen und Sekten ausgesetzt. Auf diese Angriffe zu antworten, soll die Aufgabe der bescheidenen Broschüre sein, von der betont werden muß, daß sie nicht die "offizielle Lehrmeinung" der Gemeinden Christi, sondern einzig und allein die Auffassung ihres Verfassers, der die Gnade hatte, schon in seinem 17. Lebensjahr (1916) vom Herrn der Kirche in der Taufe zugetan worden zu sein, darstellt. Die Gemeinden Christi haben kein Lehrsystem, denn Richtschnur für Glauben und Leben ist ihnen allein die Heilige Schrift. Sie haben daher auch weder Zentrale noch Predigerseminar, weder Katechismus noch Gesangbuch, weder eine eigene Zeitschrift noch eine eigene autorisierte Literatur. So wird auch diese Schrift von ihren Gliedern nur insoweit gebilligt, als sie mit Geist und Buchstabe der letzten Offenbarung Gottes in seinem lieben Sohn in dem durch den Heiligen Geist gewirkten Neuen Testament sich deckt.
Diese Schrift hier soll sich mit den Begriffen "Kirche" (oder Gemeinde) und "Sekte" auseinandersetzen. Versuchen wir uns zuerst einmal über den Begriff Kirche bzw. Gemeinde klar zu werden.
Da haben wir festzustellen, daß das Wort "Kirche" interessanterweise in der ursprünglichen Verdeutschung des Neuen Testamentes durch Luther nirgends vorkommt. Der deutsche /2/ Reformator übersetzt das griechische Wort ekklesia (sinngemäß: die durch Heroldsruf versammelte Volksgemeinde) regelmäßig durch"Gemeinde"."Das Wort Kirche ist bei uns zumal undeutsch und gilt den Sinn oder Gedanken nicht, den man aus dem Artikel nehmen muß", schreibt er in seinem Traktat "Von den Konzilien und Kirchen" vom Jahre 1539. Wir wollen es in diesem Punkte gern mit ihm halten und auch also verfahren.
Jesus Christus redet nur an zwei Stellen von der Gemeinde: Matth. 16:18 und Matth. 18:16-18. Die Stelle im 16. Kapitel ist die bekanntere, gründet doch die römische Kirche auf sie die Ansprüche ihres Oberhauptes als des Nachfolgers Petri. Und wirklich muß man zugeben, daß hier keine andere Auslegung möglich ist als die: Petrus soll der Fels sein, auf den der Herr seine Gemeinde erbauen wird, Fels natürlich nicht in dem Sinne, daß er wie Christus Grund- und Eckstein derselben ist (Matth. 21:42), sondern daß er der Mann sein soll, bei dessen Heroldsruf die Gemeinde zum ersten Mal sich versammelt. Petrus, der Felsenmann, bezeichnet also die geschichtliche Gründung der Gemeinde, und tatsächlich hat er auch diese ihm aufgetragene Sendung mit seiner Pfingstpredigt ausgeführt. Durch sein Wort tat der Herr an dem Tage bei 3000 Seelen zu der Gemeinde, die Buße getan und sich taufen gelassen hatten auf den Namen Jesu Christi zu Vergebung der Sünden (Apg. 2:14-41). Wie wenig aber damit dem Petrus ein besonderes Vorrecht vor den anderen Aposteln eingeräumt worden war, geht aus Matth. 18:18 ganz deutlich hervor, wo die gleicheVollmacht zu binden und zu lösen allen Jüngern zugesprochen wird. Nach Gal. 2:9 empfingen Paulus und Barnabas in Jerusalem nicht von Petrus allein, sondern auch von Jakobus und Johannes, die mit ihm "als Säulen angesehen wurden", den Auftrag zur Heidenmission. Denn jene Gemeinde, die Christus Matth. 16:18 dem Petrus zu gründen aufgetragen hatte, ist lt. Eph. 2:20 nicht auf Kephas allein, sondern "auf den Grund der" d. h. aller "Apostel und Propheten erbaut werden, da Jesus Christus der Eckstein ist", und die Mauer der großen Stadt, des heiligen Jerusalem der Offenbarung des Johannes, welche die Gemeinde versinnbildlicht, "hatte zwölf Gründe und in denselben die Namen der zwölf Apostel des Lammes" (Offbg. 21:14). Auch ist von einer besonderen Machtstellung, die dem Petrus übertragen worden war, nirgendwo im Neuen Testament die Rede. Die Ausführungen des Paulus im 2. Kapitel des Galaterbriefes, besonders die in den Versen 8-14, widerstreiten dem sogar direkt. Daß aber den sogenannten "Nachfolgern"des Petrus diese Vollmacht übertragen worden sei, ist gänzlich ausgeschlossen. Petrus war /3/ ein Apostel Jesu, d. h. einer seiner Sendboten, der entweder Augen- und Ohrenzeuge der Lehren, Taten, Schicksale seines Herrn von der Taufe durch Johannes bis zur Himmelfahrt gewesen (Apg. 1:21-22) oder durch den Herrn persönlich zu dieser Aufgabe berufen worden sein mußte (Gal. 1:1). Die Vollmachten eines Apostels konnten so wenig auf einen anderen Menschen übertragen werden, wie.die Aussagen eines Augenzeugen auf einen anderen Menschen.
Die zweite Stelle, in der Christus selbst von der Gemeinde spricht, steht Matth.18:16-18, wo für gewisse Angelegenheiten des Gemeindelebens Richtlinien erlassen werden. Diese Richtlinien widerlegen allein schon die Behauptungen liberaler Theologen, Jesus habe niemals die Absicht gehabt, eine eigene Glaubensgemeinschaft im Gegensatz zur israelitischen zu gründen. Darum rede auch der Herr nie von einer Gemeinde, sondern nur vom sich nahenden Himmelreich oder vom Reiche Gottes. Demgegenüber ist, wie Ernst Kalb ganz richtig ausführt, zu bemerken, daß Jesus tatsächlich schon den Kern einer Gemeinde gebildet hat, als er die Zwölfe als einen engeren Kreis von Vertrauten um sich sammelte. Die Jünger sind von Jesus erwählt und sind in beständigem Umgang mit ihm gewesen; sie sollen sein Werk fortsetzen, die frohe Botschaft hinaustragen in die Welt; sie sollen durch Prophetie, Lehre und Schriftauslegung wirken (Matth. 23:34). Alles was sie tun, soll jederzeit ein Dienst der Liebe sein. Sie sollen keine Vorgesetzten der Gemeinde sein; sie sollen sich noch nicht einmal Magister oder Doktor nennen lassen (Luk. 22:25-26; Matth. 23:8-9).
Das sind Ansätze zur Bildung einer Gemeinde Christi, wie sie schon in Leben und Wirken Christi deutlich hervortreten. Freilich hat der Herr über die Art der Verfassung, über die äußeren Ordnungen des Gcmeindelebens mit Ausnahme der Richtlinien über die Zucht (Matt. 18:16-18), das Herrenmahl (Luk. 22, 17-20) und die Taufe (Matth. 28:19:20; Mark. 16:16) keine statutarischen Vorschriften gegeben. Er wußte, daß der Tröster, der da kommen würde, der Heilige Geist, sie in allen diesen Stücken in alle Wahrheit leiten werde.
Eine Unterscheidung zwischen Gemeinde Christi und Reich Gottes oder Himmelreich kann bei genauem Studium aller sich hierauf beziehenden Schriftstellen nicht gemacht werden. Auch eine Unterscheidung zwischen Äußerem (Gemeinde) und Innerem (Reich Gottes) entspricht dem Sinne Jesu nicht. Freilich ist das Reich Gottes, das höchste Gut, der Schatz im Acker, die kostbare Perle etwas, das der Mensch sich innerlich aneignen muß, und die Gemeinde ist als Vereinigung der durch die Pre- /4/ digt des Wortes Zusammengerufenen, sich unter der Macht des Wortes sich gänzlich Wandelnden, zu Christus als Gottes Sohn und einzige Autorität sich Bekennenden und in seinem Namen zur Vergebung ihrer Sünden Getauften etwas, das äußerlich sichtbar geworden ist. Aber die Gemeinde ist doch nur Gemeinde Christi, sofern sie in Christo und Christus in ihr ist (Matth. 18, 20; 28:20), und das Reich Gottes tritt doch auch durch die Früchte des Glaubens und der Liebe äußerlich in Erscheinung, Die "Mitbürger des Heiligtums und Familienangehörigen Gottes" (Eph. 2:19) sind eben, in ihrer gemeindlichen Verbundenheit betrachtet, die Kirche Christi und die Verwirklichung des Reiches Gottes innerhalb der gegenwärtigen Welt. Julius Köstlin sagt es nachdrücklich: "Für wahre Glieder seiner Gemeinde können nur die gelten, welche wirklich als seine Jünger verbunden und in seinem Namen nach Matth. 18 versammelt sind und eben hiermit auch am Reiche teilhaben. Und andererseits läßt sich von keinem, der den Samen des Wortes aufgenommen und am Reiche teil hat, denken, daß er der Gemeindegenossenschaft fremd bleiben sollte." Diesem Wort des lutherischen Gottesgelehrten in seinem empfehlenswerten Werke "Religion und Reich Gottes", 1894, kann die Beweiskraft der Schrift nicht abgesprochen werden.
Während in den Reden Jesu der Begriff der Gemeinde hinter dem des Himmelreichs oder Reiches Gottes zurücktritt, ist in den Schriften der Apostel und ihrer Schüler das umgekehrte Verhältnis zu beobachten. Wohl sind die gläubig Getauften jetzt schon "errettet von der Obrigkeit der Finsternis und versetzt in das Reich" des geliebten Gottessohnes, - jetzt schon "samt ihm auferweckt und samt ihm in das Himmelssein gesetzt" (Kol.1:13; Eph. 2:6), wohl nehmen sie schon in diesem Leben teil an den geistigen Gütern des Himmelreiches: "Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste" (Röm. 14:17). Aber zu seiner Entfaltung und zu seinem Offenbarwerden vor allen Menschen kommt dieses Reich erst in der zukünftigen Weltperiode. Wo also die Apostel von der klar umrissenen Gemeinschaft der Christus im Glauben Gehorsamen reden, da reden sie nicht vom Reich Gottes, sondern von der Gemeinde.
Diese Gemeinde Christi aber wird nicht bloß aufgefordert, heilig zu sein, sondern sie heißt schon "heilig" und ihre Glieder die "Heiligen", da sie Gott sich aufgeopfert, also geheiligt in der eigentlichen Bedeutung des Wortes haben. So redet Paulus von den Gemeinden als von den in "Christo Geheiligten" oder den "berufenen Heiligen" (1. Kor. 1:2; 2. Kor. 1:1, Röm. 1:7 u.a.); und in 1. Petr. 2:9 wird die Bezeichnung des Volkes des Alten /5/ Bundes, "heiliges Volk", auf die Christen übertragen; die einzelnen Glieder der Gemeinde sind von Gott berufen, von Gott "ausgesondert" aus dem Reich der Welt, also geheiligt. Wer zu dieser Gemeinde gehört, der steht mit Gott und seinem Christus in innigster Lebensgemeinschaft, der hat in der Taufe "Christum angezogen" (Gal. 3:27), ist "gewaschen worden, geheiligt und gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesu und durch den Geist unseres Gottes" (l.Kor. 6:11). Trotz aller ihnen noch anhängenden Fehler und Mängel, trotz der Möglichkeit der Sünde und des Falles sind sie Heilige, d. h. Gott geheiligte Menschen. "Der Herr kennet die Seinen" (2. Tim. 2:19) und erkennet nur die Seinen als seine Heiligen an. Diejenigen, die "aus der Gnade gefallen" sind, gehören gar nicht mehr zur Gemeinde Christi, betont auch der lutherische Symboliker Kalb mit vollem Recht.
Nach neutestamentlicher Auffassung treten nicht die einzelnen Gläubigen zusammen, um eine Gemeinde zu bilden, sondern die einzelnen Christen werden von Gott erwählt und der schon bestehenden Gemeinde "hinzugetan". Die Gemeinde ist also als solche zuerst da. Sie ist von oben her gebildet worden durch Christus, und Gott tut zu dieser Gemeinde hinzu, wen er will. Wo Christus ist, wo sein Wort verkündigt wird durch die Predigt des Mundes oder die Werke des Glaubens, da ist Gemeinde Christi, ganz abgesehen davon, ob auch regelmäßige Versammlungen dort abgehalten werden. Denn die "Mutter der Gläubigen", wie Gal. 4:26 die neutestamentliche Gemeinde genannt wird, ist schon vor den Kindern da, der "Leib Christi", seine Kirche also (1. Kor. 12:13; Eph. 1:22-23; 4:15-16; 5:23-30; Kol. 1:18-24), ist zuerst da, nicht die einzelnen Glieder; und ein Glied, das vom Leib getrennt ist, stirbt ab.
In dieser Gemeinde Christi gab und gibt es Ämter oder Berufungen. Bezeichnend hierfür ist jedoch, daß sie stets als diakonia, d. h. als Dienstleistung bezeichnet werden, da nach neutestamentlicher Auffassung das Amt auf einer besonderen Gabe, einem charisma, beruht, das dem einzelnen von Gott verliehen worden ist und in den Dienst der Gemeinde gestellt werden soll.
Die drei am häufigsten vorkommenden Bezeichnungen für solche Ämter und ihre Träger sind epískopoi (Bischöfe, Aufseher), presbyteroi (Älteste) und diákonoi (Pfleger). Die Bezeichnungen Bischöfe und Älteste erscheinen auswechselbar und sind daher identisch. Eine Anzahl dieser angesehenen Gemeindemitglieder standen und stehen in der Leitung jeder der voneinander völlig unabhängigen Gemeinden und hatten miteinander die Angelegenheiten der Versammlung zu beraten und zu /6/ besorgen. Auch die Pfleger, die vor allen Dingen als "Diener der Notdurft" sich mit den Aufgaben der leiblichen Fürsorge für die Glieder und die Bedürftigen zu beschäftigen haben, unterliegen denselben Auslesevorschriften, die auch für die Bischöfe oder Ältesten gelten (1. Tim. 3; Tit. 1). Es werden nur solche Männer berufen, die nach dem Urteil der Gemeinde die für das betreffende Amt notwendigen Gaben besitzen. Aber eine Vorschrift, wie solch eine Berufung vor sich gehen müsse, findet sich im Neuen Testament nicht, in dem uns niemals der Geist der Gesetzlichkeit, sondern stets der Geist der Freiheit entgegenweht. Alle Ordnungen der Gemeinde und des Gottesdienstes werden so gestaltet, wie sie dem Wort Gottes in den Schriften des Neuen Bundes angemessen sind. Im Licht dieser evangelischen Freiheit konnte niemals das Unkraut des Klerikalismus gedeihen.
Doch das "Geheimnis der Bosheit regte sich bereits", als Paulus seinen zweiten Brief an die Thessalonicher schrieb. So kann es nicht überraschen, wenn schon die den Aposteln folgende Generation eine zunehmende Zentralisierung der Ämter in der Gemeinde in den Händen eines einzelnen Bischofs, die Herstellung von Gemeindeverbänden (Diözesen), Konzile der Ältesten und Bischöfe in den einzelnen Provinzen des Römischen Reiches und schließlich die Usurpierung der Leitung der Gesamtgemeinde durch die Reichsbischöfe von Rom und Konstantinopel herannahen sah.
Der Kern der Gemeinden Christi wehrte sich verzweifelt gegen diese Entwicklung,
die folgerichtig unter Kaiser Konstantin zur Schaffung einer mächtigen,
mit dem Staat Hand in Hand arbeitenden, die alten Organisationsformen nach
und nach beseitigenden und die Lehre durch Hereinnahme hellenistisch-philosophischer
und orientalisch-magischer Elemente völlig ihres Sinns beraubenden
Großkirche führte. Die kleinen Sekten der Apostelzeit, deren
Spuren uns in den Briefen an die Korinther, Galater und an Titus begegnen:
in pharisäische Gesetzlichkeit zurücksinkende Judenchristen oder
unreiner Erkenntnis höherer Welten nachstrebende Gnostiker, hatten
schon längst in Hunderten sich eifrig untereinander befehdender Kultgemeinschaften
und Glaubensschulen Weggefährten auf dem bequemen und breiten Weg,
der in die Verdammnis führt, gefunden. Nun schuf die Errichtung der
Staatskirche neue Probleme und damit neue Sektierergruppen die keineswegs
gegen das Prinzip der vom Staat gelenkten oder kontrollierten Kirche an
sich auftraten, sondern nur ihre christologische oder organisatorische
Sonderheit zur herrschenden Richtung im Reiche /7/ machen wollten. In den
Auseinandersetzung mit diesen Abspaltungen und Ketzereien bildete sich
das dogmatische Lehrgerüst der abendländischen und morgenländischen
Großsekten heraus, und ihr Feldzug gegen die Sektierer wurde auch
und gerade mit Staatsmitteln gegen die kleinen unabhängigen Gemeinden
Christi geführt, die--nur das Neue Testament als Grundlage ihres Glaubens
und Gottesdienstes anerkennend--sich gegen die Aufsaugung durch die Sekten
des Verderbens aller Schattierungen nur mühsam wehren konnten.