Die Sekten
Das Unwesen der Sektiererei nimmt in diesem 20. Jahrhundert, allen Voraussagungen der Apologeten und Symboliker der Jahrhundertwende spottend, noch immer eher zu als ab. In Deutschland hat sich z.B. die Zahl der bekannten Sekten (und wieviel Fünf-Mann- oder besser Fünf-Frau-Sekten gibt es, von denen höchstens die allernächste Umgebung etwas weiß!) von 83 im Jahre 1898 auf 272 im Jahre 1957 erhöht, in Holland von 160 auf 348, in den Vereinigten Staaten von 169 auf 247, in Südafrika aber gar von 32 im Jahre 1909 auf 783 im Jahre 1956, und in Brasilien ist die Entwicklung noch rascher vor sich gegangen: von 9 im Jahre 1907 auf 821 im Jahe 1957! Und alle die genannten Zahlen beruhen, wie gesagt, nur auf höchst unvollständigen Statistiken.
Die Quelle aller Sektierereien, mögen sie so verschieden voneinander sein wie Unitarismus und Mormonismus, Pfingstbewegung und Freireligiosität, Katholizismus und Calvinismus, ist die mangelnde Kenntnis der neutestamentlichen Botschaft und die daraus sich ergebende völlige Verkennung Christi als des einzigen Offenbarers göttlichen Wesens in diesem letzten, und darum entscheidendsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte.
Es ist eine Binsenwahrheit: Erkenntnis von Offenbarung beginnt nicht immer mit Klarheit. Sie kann an Klarheit zunehmen, sie sollte an Klarheit zunehmen. Unter allen Umständen aber beginnt Offenbarung mit Gewißheit. Entweder Gott hat gesprochen durch die heiligen Männer, die, getrieben vom Geiste, das Offenbarte schriftlich niederlegten, oder er hat nicht gesprochen. Hat er gesprochen, dann hat er unüberhörbar gesprochen. Dann sind alle Fragen nach Gottes Dasein und Wesen entschieden, und zwar für immer entschieden. Auch der theologisch oder philosophisch genährte Zweifel, auch die Verzweiflung, auch der Unglaube des Menschen, auch ein Meer von Un /8/ wissenheit auf unserer Seite, können dann nichts ändern an dieser Gewißheit von der Gegenwart Gottes. Diese seine Gegenwart bei den Menschen ist seine Offenbarung. Es gibt und wird immer geben - darin geben wir Barth völlig recht - unzählige menschliche Fragen angesichts dieser seiner Gegenwart. Aber sie alle beziehen sich nicht auf die Gewißheit der uns durch den Heiland gewordenen Offenbarung, sondern ausschließlich auf die in der Offenbarung seiner Gegenwart schon gegebenen Antwort. Die Gewißheit hat das erste und das letzte Wort, nicht als unsere, aber als Gottes eigene Gewißheit.
Gottes Offenbarung in Christus trägt den Charakter der Einmaligkeit. Wie der Mensch nur einen Vater haben kann - wie er nur einem Menschen zugleich in die Augen schauen kann, nur eines Menschen Wort zugleich in sich aufnehmen kann, - wie er körperlich nur einmal geboren werden und nur einmal sterben kann, so kann er auch nur eine Offenbarung glauben und erkennen. Man kann eine Anzahl von Religionen nebeneinander stellen und vergleichen, man kann aber nicht eine Mehrzahl von Offenbarungen gleichwertig nebeneinander stellen. Wer Offenbarung sagt, sagt eine einzige Offenbarung, ein für allemal geschehen, unwiderruflich und unwiederholbar, so gewiß Gott ein einziger Gott ist. Vor dieses Gottes Wirklichkeit versinken alle Möglichkeiten, vor dieses Gottes Wahrheit verflüchtigen sich alle Wahrscheinlichkeiten, vor dieses Gottes Angesicht gibt es kein Ausweichen nach links oder rechts, keine Wahl, sondern nur immer wieder eine Entscheidung. -
Wir sprachen von der Erkenntnis der Offenbarung. Wir konnten nicht davon sprechen, ohne das Entscheidende faktisch schon vorwegzunehmen hinsichtlich der Frage nach Wesen und Inhalt der Offenbarung. Warum also jene Gewißheit, jene Einmaligkeit der Offenbarungserkenntnis? Darum, weil Offenbarung, weil das, was den Propheten des Alten Bundes und den Gotteskindern des Neuen Bundes widerfuhr, nicht weniger ist als Gott selber. Darum ist und bleibt Offenbarung ein Geheimnis, d. h. eine Wirklichkeit, die wir in aller Ewigkeit nur aus sich selber, nicht aber von anderswoher verstehen, ableiten, begründen können. Gott ist aus und durch sich selber. Darum ist und bleibt er der Gott, der sich nur in seinem Sohn und in seiner Offenbarung, der Heiligen Schrift, jenem Dokument des Heiligen Geistes, erahnen läßt. Seine Offenbarung aber haben wir, die wir uns erkühnen uns Christen zu nennen, den Anfang unseres Denkens sein zu lassen, nachdem sie selber für sich selber gesprochen hat. Und darum ist sie Autorität, d. h. Wahrheit, die nicht gemessen ist an dem Maßstab irgend einer, und wäre es /9/ die tiefste und aufrichtigste Menschen-Wahrheit. Weil also die Offenbarung Gottes in der Schrift Gott selber ist, ist die Schrift selbst das letztinstanzliche Gericht über den Menschen: Gnade für den, der im Glauben ihr Verdammungsurteil annimmt als göttliches Recht, - Verdammnis für den, der nicht Gnade annehmen, sein eigenes menschliches Recht, seine menschliche Meinung vielmehr gegen die göttliche Offenbarung geltend machen will. Wo ein eigenmächtig ersonnener Erlösungsplan und Erlösungsweg, beruhend auf einer eigenmächtigen Vorstellung von Gott und dem Menschen, das Feld beherrscht, da mag die Meinung noch so herzlich gut und fromm sein - da ist nicht Gemeinde Christi, da ist nicht jene Kirche, die die Pforten der Hölle nicht überwältigen können. Da ist eben Sekte!
Denn das Wesen der frohen Botschaft des Gottessohnes Jesus Christus, durch seine Jünger jeglicher Kreatur gepredigt, besteht darin, daß eben dieser Gott die Menschen, die Welt - also Gute und Böse, Törichte und Gescheite - so geliebt hat und noch liebt, daß er den Eingeborenen selbst gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern ewiges Leben haben. Denn soviele ihn aufnahmen, soviele in sich die große Sinnesänderung vollziehen ließen, soviele ihn freudig oder zitternd bekannten vor den Menschen, soviele ihrem Glauben den Gehorsam als herrlichste Frucht folgen ließen, denen gab er mit der Taufe zur Vergebung ihrer Sünden die Kraft, Gottes Kinder zu sein. Den Kindern allein aber gilt die Verheißung: der verlorene Sohn allein darf reuig heimkehren zu seinem Vater und getröstet werden. - So ist Christus, der gottentstammte und gottgesandte Heiland, die Gewißheit unserer Erlösung: einziger Weg, einzige Wahrheit, einziges Leben, - und niemand kommt zum Vater, denn durch ihn.
Das gerade Gegenteil von dem allen aber lehren die Sektierer. Sie alle glauben, mehr oder minder verschleiert durch theologische Floskeln und nebelhafte Verklausulierungen, daß der Mensch durch seine eigene Tat, durch seine eigenen Leistungen selig und heilig werden und zu Gott emporsteigen könnte und müßte. Das ist das eigentliche Merkmal des Sektierertums. Bei der Sekte, bei jeder Sekte, und mag sie noch so vollen Mundes von Christus, seinemVerdienst und seinem Blut sprechen, kommt es zuletzt immer wieder darauf hinaus, daß der Mensch mit seinem Tun und Glauben die Quelle seines Heils und seiner Heiligung sein könnte und müßte, - daß er selbst Gott erfassen, zu ihm kommen und mit seinem Verdienst, seinen guten Werken und seiner Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit vor ihm bestehen oder mindestens etwas zu seiner Erlösung und Seligkeit bei- /10/ tragen könnte: das glauben sie alle, von den Pfingstlern bis zu den Romkatholiken.
Wer aber erst einmal den Grundirrtum der Möglichkeit einer Erlösung aus eigener Kraft oder mit Hilfe der sogenannten guten Werke anderer begeht, wird dann leichte Beute für alle anderen Irrlehren. Er ist auf die schiefe Ebene geraten und gleitet auf ibr unaufhaltsam weiter und weiter dem Verderben entgegen, dabei aber in dem Wahn lebend, er steuere in die ewige Seligkeit. Weil die Sektierer aller Schattierungen das Evangelium nicht verstehen und durch verdienstliches Tun errettet zu werden hoffen, wo unverdiente Gnade doch nur uns zum Glauben geführt hat, ist es nur natürlich, daß sie alles, was es an Gebot und Lehre in der Bibel gibt, oder alles, was sie sich selbst an Geboten und Lehren erdenken, nur als Gesetz, als Himmelsleiter, als Mittel zur Heiligkeit betrachten, die benutzt werden müsse, um gerecht, tugendsam und heilig zu werden, sich das ewige Heil zu verdienen und vor Gott bestehen zu können. Fremd ist ihnen die beseligende neutestamentliche Erkenntnis, daß der durch Gottes Gnade unter das Wort gerufene, durch das Wort gläubig gewordene und nach der Vorschrift des Wortes getaufte und damit wiedergeborene Mensch nach den Geboten Gottes lebt und nach der Heiligung strebt, nicht um selig zu werden, sondern weil er nun selig ist und daher vollkommen zu sein wünscht, wie sein Vater im Himmel es ist.
Auf denselben Grundirrtum gehen aber auch die törichten Ansichten der Irrlehre über die Bibel selbst zurück. Weil sie das Evangelium als die alleinseligmachende Botschaft Gottes an die verlorene Menschheit nicht begreifen, machen sie keinen Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament und sehen die ganze Heilige Schrift als sie verpflichtendes Gesetzbuch an. Es bleibt ihnen die göttliche Wahrheit unbekannt, daß die ganze Bibel nur um des Evangeliums willen da ist, und nicht das Evangelium um der Bibel willen, und daß ebenso das Evangelium um der Menschen willen da ist und nicht die Menschen um des Evangeliums willen. - Mit der falschen Stellung zu Gottes Wort aber hängt eng zusammen der falsche, unevangelische Gebrauch der Bibel. Die von Menschen erdachten Lehren legen sie in die Bibel hinein, um sie dann der Bibel wieder zu entnehmen. Aber alle diese Sonderlehren werden immer nur mit einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelsprüchen begründet. Die so fundiert gemeinte Lehre wird dann zur Zentrallehre der Bibel überhaupt und zu der neuen Botschaft erhoben, die durch Missionare, Apostel, Evangelisten oder ähnlich sich nennende Propagandisten in die Welt getragen werden muß. Die ganze übrige /10/ Heilige Schrift wird nur noch als Beweismittel für die Hauptgrundsätze der Sekte benutzt. Reichen die aus einer Konkordanz gezogenen Parallelstellen nicht aus, so greift man zu wildester und willkürlichster Allegorie, zur Versinnbildlichung oder zu grammatikalisch unmöglichen Neudeutungen von biblischen Begriffen. Und dieses Suchen nach Beweisen für die Richtigkeit vorgefaßter Meinungen wird dann noch wie zum Hohn "ernstes Bibelforschen" genannt!
Weil die Sektierer aber nicht durch die völlige Übergabe an Christus, nicht durch die Taten Gottes, sondern durch eigene Leistungen ihre Heiligkeit erlangen wollen, ist es nicht mehr wie selbstverständlich, daß sie entweder in Selbstvergötterung enden oder einen häßlichen, bald offenen, bald versteckten Menschenkultus treiben müssen. Ihnen ist eben nicht die Gottestat in Christo das Höchste, sondern die dämonisch flackernde Erleuchtung ihres Stifters oder Propheten. Sie sind somit Götzendiener wie die Heiden, und ihre Predigtweise ist hicht geduldiges Verkünden Christi und seiner frohen Botschaft, sondern ein fanatisches und unehrliches Werben für die eigene Sache. Der Beeinflussung unwissender und einfältiger Gemüter aber dienen Drohungen mit der Hölle, Lockungen mit dem Himmel, Versprechen des Mitherrschens mit Christus über die Ungläubigen auf dieser Erde, Einschüchterungen aller Art, Träume, Tränen und Geständnisse, Zeugnisablegen, Seufzen, Zungenreden und ekstatische Bußkrämpfe.
Die Wirkung dieser Suggestion äußert sich bei ihren unglücklichen Opfern in mannigfaltiger Weise. Am deutlichsten tritt der Fanatismus in Erscheinung, der als Glaubensmut und Bekenntnistreue ausgegeben wird und die Irregeleiteten fortan irgendwelchen vernünftigen Erwägungen oder irgendwelcher Aufklärung und wahrhaft biblischer Belehrung unzugänglich macht. Hat man diese Fanatiker einmal in die Enge getrieben und nachgewiesen, daß die Lehren, auf die sie so entscheidend Wert legen, falsch vom Ansatz her, irrig, schriftwidrig und damit ungöttlich seien, dann geben die meisten von ihnen den Versuch auf, mit der Heiligen Schrift ihre Sektiererei weiter zu verteidigen und berufen sich entweder auf das Fortwirken des Heiligen Geistes in der Spitze ihrer Hierarchie oder auf ihren Propheten direkt zuteil gewordene besondere göttliche Offenbarungen. In dieser neuen Position dünken sie sich dann stark und unüberwindlich und verlangen noch obendrein, daß man ihre Lehre, die sie "sich nach eigenen Lüsten aufgeladen haben und nach denen ihnen die Ohren jücken" (2. Tim. 4:3), als Werkzeuge und Sprachröhren Gottes ansehe. Das zieht zwar /11/ nur bei Unwissenden - aber Unwissende bilden ja nun einmal den großen Heerhaufen derer, "die die Ohren von der Wahrheit wenden und sich zu den Fabeln kehren« (2. Tim. 4:4). - Wahre Christen begreifen sofort, daß auch dieses Gehabe seine Wurzel in dem einen Grundirrtum, in der falschen Auffassung des Neuen Testamentes, hat. Wer die Evangelien und die Apostelbücher kennt und versteht, der weiß schon aus dem Eingang des 2. Petrusbriefes, daß Gott Gnade, Friede und seine Kraft, Erkenntnis Christi und alles, was zum Leben und göttlichen Wandel dient, uns geschenkt hat in seinem Sohn, so daß wir keiner anderen Offenbarung mehr bedürfen, um gerettet zu werden, und daß es nach dem, der Alpha und Omega, Anfang und Ende unseres Glaubensalphabetes ist, keine weitere und überragendere Offenbarung Gottes für seine Menschenkinder geben kann und geben wird. Daher teilt auch der Heilige Geist den Seinen nicht mehr mit, als sie schon in Christo, seinen Worten und Taten, haben. Er lehrt uns nur den Heiland zu verstehen und verklärt ihn in uns, wie Christus es selber voraussagte. Mehr kann uns auch der Heilige Geist nicht sagen als das, was in der Schrift des Neuen Bundes steht, und darum wirkt er hinfort auf uns auch nur durch diese Schrift: Gottes Wort.
Irrlehren, Sektiererzirkel verbreiten sich nur da, wo dem göttlichen Licht des Evangeliums die armselige Vernunftfunzel des unerlösten Menschen oder die düster glostende Fackel des Fanatismus des unwissenden Menschen vorgezogen wird. Wo das Salz der Christenheit dumm geworden ist, weil es verwässert wurde mit der seichten Lauge des Aufklärichts, - wo das Licht der Christenheit nicht mehr sichtbar ist, weil man ihm den Scheffel winkelhockenden Pharisäertums übergestülpt hat, - da gedeiht die Saat des altbösen Feindes im Ackerfeld des Himmelreichs.