Der Weg der Gemeinde

Als die Verfolgung der staatlichen und großkirchlichen Gewalten nicht nur die Arianer des Ostreichs und die Donatisten und Novatianer des Westens gewaltsam ausrottete, erlagen auch viele Gemeinden, die an der Lehre vom Bergland Galiläas und an den Ordnungen der Apostelzeit festgehalten hatten, dem Fanatismus und Diensteifer der Verfolger. Mit Vorliebe suchte man diese unbequemen "Altgläubigen" mit den damals gängigsten scheinchristlichen Häresien in einen Topf zu werfen, - man verbrannte in Syrien echte Jünger Christi gemeinsam mit /13/ dualistischen Markioniten oder Manichäern, man rottete in Armenien und im angrenzenden Nordost-Kleinasien ihre Gemeinden als dem Sonnenkult der Arevurds verfallen aus, - man spürte sie auf der galatischen Hochebene gleichzeitig mit antinomistischen Messalianern auf und steinigte oder verbrannte sie mit diesen zusammen. Und doch konnte keine Macht der Hölle denWeg der Gemeinde des lebendigenGottes hindern! Familienweise, gruppenweise besiedeln vor den Henkern sich verbergende Christen die unzugänglichen Oasen Nordwest-Arabiens, verbergen sich in den fast wasserlosen Wadis der Sinaihalbinsel, fliehen in die chaotischen, von den meletianischen und arianischen Streitigkeiten erhitzten Städte des Nildeltas, tauchen im Hinterland der Cyrenaika, auf der Insel Djerba vor der tunesischen Küste, im Hohen und Niederen Atlas auf. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts finden wir die Spuren neutestamentlicher Mission schon im Nordteil der Pyrenäen-Halbinsel. Der einflußreiche Großkaufmann Priscillianus befolgt den Rat, den Jesus dem reichen Jüngling gab. Er verkauft seine Güter, verteilt den Erlös unter den Armen und predigt mit solchem Erfolg die Frohe Botschaft unserer Errettung vom Tode und von der Gewalt des Teufels, daß ihn die katholische Diözese Avila auffordert, ihr als Bischof zu dienen. Zwei Bischöfe der Großkirche werden seine eifrigen Anhänger. 380 wird er mit seinen Getreuen gebannt. Die Staatsgewalt bemächtigt sich seiner, er wird in Ketten nach Trier gebracht und dort nach schrecklichen Folterungen, deren Zweck es war, ihm das Geständnis zu entreißen, er sei ein Magier und Manichäer, mit fünf seiner Anhänger enthauptet. Spuren von ihm gegründeter und beeinflußter Gemeinden trifft man noch nach Jahrhunderten im nördlichen Portugal, im westlichen Frankreich, in Galicia und Traz-oz-Montez.

Aus den keltischen Gebieten Galicias und Galliens müssen zuerst neutestamentliche Sendboten auf die britischen Inseln gekommen sein, denn schon im Jahre 422 schreibt der dorthin zur Kirchenvisitation entsandte katholische Bischof Germanus, daß in Britannien zahlreiche Christen die Lehre des Augustin von der Erbsünde verwürfen, nur die Untertauchtaufe an Erwachsenen vollzögen, dem römischen Ritus beim Gottesdienst nicht folgten und die Hierarchie Roms nicht anerkennten, vor allen Dingen nicht die geistliche Gerichtsbarkeit des Papstes. Es wird aber nicht behauptet, diese britischen Christen seien Manichäer, - das wäre selbst in Rom nicht geglaubt worden; man beschuldigt die schismatischen Gemeinden vielmehr des Arianismus. Die Eroberung Britanniens durch die heidnischen Ger- /14/ manen und deren spätere sogenannte Christianisierung durch römische Bischöfe und in Rom ausgebildete Äbte, führen zum raschen Verschwinden dieser Gemeinden. In dem kühnen Missionsgeist der Iro-Schottischen Kirche, in deren Streben nach Reinhaltung der Lehre Jesu von fremden Gedankengängen, in ihrem Widerspruch gegen die angemaßte Autorität des römischen Episkopats und in ihren immer aufs neue unternommenen Versuchen, der Verweltlichung der Kirche Einhalt zu gebieten, ist sicher noch ein Erbteil jener Gemeinden der Heiligen zu erblicken, nach denen einst Irland sich nannte, und die Deutschland einen Kilian, Clemens und Virgilius schenkten. An der Wirkungsstätte jenes auf Befehl eines Frankenherzogs ermordeten Kilian, im Schottenkloster zu Würzburg, ist noch heute ein Pergament aus der Mitte des 8. Jahrhunderts erhalten, eine griechische Abschrift des Römerbriefes. Bei Röm. 3 steht die irische Randglosse: "Creitem. hi cridiu in folgni in duine fírian" (Der Glaube, im Herzen verborgen, macht den Menschen gerecht), eindeutiges Bekenntnis zu echtem neutestamentlichem Christentum gegen den Institutionalismus der Papstkirche. Um 700 beginnt in Irland selbst die allmähliche Angleichung der romfreien Nationalkirche an den abendländischen Großkirchentyp. Um 800 brechen die schottischen Könige die Macht der Clans und beseitigen mit der alten Sippenverfassung die letzten Reste der iro-schottischen Missionsgemeinden, aber noch 1390 baut eine neutestamentliche Gemeinde im keltischen Hill Cliff in Wales einen Gottesdienstraum mit einem großen Becken zur Untertauchung Erwachsener bei der Glaubenstaufe.

Erste Kunde vom Weiterbestehen neutestamentlicher Gemeinden in Syrien erhalten wir aus Mananalis, wo die fromme Witwe Kallinike 375 öffentlich gegen den staatskirchlichen Terror der Mehrheit und die arianische Häresie der Minderheit unter Berufung auf Lehre und Wirken des Apostels Paulus in diesen Gegenden Protest erhebt. Mit ihren beiden Söhnen Paulos und Johannes wird sie als "Manichäerin" aus der Gegend verbannt, der billigste Vorwand, da auch die Anhänger der gnostisch-parsisch-buddhistischen Mischreligion des Mani gegen gewaltsame "Bekehrungen", gegen den Gebrauch des Schwertes, gegen die Anwendung des Eides, gegen den Mammonismus in Staat und Kirche Front machten und das Gesetz des Alten Testamentes durch Christus außer Kraft gesetzt erklärten. - Die Brandmarkung als Manichäer war gefährlich, da diese Religion als besonders staats- und kulturgefährdend galt und ihre Anhänger dem Tod auf dem Scheiterhaufen verfielen. - Trotzdem breitete sich gerade von Mananalis 250 Jahre später eine neue Welle neutestamentlicher Gemeindebildung in Vorderasien aus. Ein markionitischer Sektierer, Konstantin, wird durch das Studium aller vier Evangelien und der Paulusbriefe bekehrt und schließt sich der kleinen Katakombengemeinde der wahren Christen an. Verfolgung treibt auch ihn und seine Glaubensgenossen um die Mitte des 7. Jahrhundert nach Kibossa in Nordarmenien, wo er von der dortigen, unter etwas freieren Verhältnissen existierenden Gemeinde Christi herzlich aufgenommen wird. Nun führt er wandernd und predigend das Leben eines treuen Nachfolgers des Herrn, mit allen Gemeinden in der Zerstreuung persönlich oder brieflich Fühlung aufnehmend. In seinen Briefen bedient er sich dabei der Decknamen für Personen und Orte, um den Häschern die Arbeit zu erschweren, so spricht er z. B. von sich als von "Silvanus", von Kibossa als von "Makedonien". Aber er entrinnt seinem Schicksal nicht. Von den Soldaten des byzantinischen Gouverneurs Simeon ergriffen, wird er zum Tode verurteilt und gesteinigt, "als Ehebrecher, auf der Tat ergriffen, da er die Kirche, Christi reine Braut, mit der markionitischen Teufelsbuhlin betrogen habe". Sein standhaftes Sterben aber beeindruckt den Gouverneur so sehr, daß er unwillkürlich Parallelen zu dem Steinigungstod des Erzmärtyrers Stephanus zieht, sich intensiv mit den Lehren der Gemeinde, d. h. mit dem Neuen Testament, zu beschäftigen beginnt und schon wenige Jahre später unter dem Decknamen "Titus" einer ihrer erfolgreichsten Sendboten in Galatien und Kappadokien wird. Im Jahre 694 wird er ebenfalls aufgestöbert und zum Scheiterhaufen geführt. Sein und seines Vorgängers Werk aber geht nicht unter.Die Epoche der Bilderstürmer-Kaiser gönnt den kleinasiatischen Gemeinden eine kleine Erholungspause vor dem großen Sturm der Verfolgung, der sich hundert Jahre nach dem Märtyrertode des Simeon-Titus über sie entladen sollte. In dieser "goldenen Zeit" verhältnismäßigen äußeren Friedens wuchs die Zahl derer, die sich von der verdorbenen Lehre der Großsekten abwandten und von Gott seiner Gemeinde hinzugetan wurden. Das Volk und die Behörden nannten die Nachfolger des Lammes "Paulikianer", weil sie ihren Gegnern mit den Argumenten des großen Völkerapostels treffend bei allen Diskussionen zu antworten wußten, - sie selbst nanntèn sich ausschließlich "Christen" und untereinander "Brüder" und "Schwestern". Über ein Religionsgespräch mit ihnen aus dieser Zeit berichtet ein byzantinischer Mönch: "Nur das Neue Testament gilt ihnen als Regel für Glaube und Kirchenpraxis; sie verwerfen die Anrufung der Gottesmutter und der Heiligen, selbst der großen Märtyrer Georg und Sergius; sie weihen weder /16/ den Erzengeln noch dem Elias eine besondere Verehrung, haben überhaupt keine Kirchenfeste; an jedem Sonntag versammeln sie sich in Gebetsstätten, die unwürdig zu nennen sind, da sie weder einen Altar, noch eine Bilderwand, noch eine Aufbewahrungsstätte für die Heiligen Geräte enthalten; sie gebrauchen weder Weihrauch noch heiliges Chrisamöl. Sie verachten die Taufe der Kirche und sagen, daß Säuglinge keinen Glauben hätten. Sie erkennen weder die Jurisdiktion des Patriarchen zu Konstantinopel noch dessen zu Antiochia und Jerusalem an, halten aber auch nichts von der schismatischen Kirche der Armenier. Sie sind stolz darauf, daß ihre Gemeinden klein und arm sind und auch ihre Evangelisten nur von dem leben, was ihnen der sie beherbergende Gläubige freiwillig gibt. Sie wollen nicht wissen, daß ein Häretiker Paulus ihre Sekte gegründet haben soll, und sagen, sie seien keine Paulikianer, sondern Christen und Erwählte Gottes." - Um den Beginn des 9. Jahrhunderts entbrennt das Feuer einer Verfolgung, die sich von Jahr zu Jahr steigert. 813 werden durch Massenhinrichtungen die Christen in Kappadokien so gut wie ausgerottet, die in Armenien furchtbar dezimiert. Als beim Versuch der Festnahme einer Schar fliehender Gläubigen in den Pässen des Taurus zwei kaiserliche Kommissare in der Panik in den Abgrund gestoßen werden und umkommen, fliehen ganze Gemeinden geschlossen auf das Gebiet mohammedanischer Lehnsfürsten in Aserbeidschan und Kurdistan, so daß zu ihrer Unterbringung vom Emir bei Argaum die Stadt Tephrika dicht an der byzantinischen Grenze erbaut werden muß. Die Mauern und Zinnen dieser Stadt, von den byzantinischen Ketzerverfolgern selbst "Christianopolis" (Christenstadt) genannt, werden die Schutzburg aller Verfolgten, welcher Richtung sie auch angehören mögen. Denn außer den Christen fliehen auch Anhänger von Irrlehren: Manichäer, Jakobiten, Nestorianer, Messalianer, Bardaisaniten in die Grenzfeste; furchtbar wütet ja die Verfolgung der Kaiser und Bischöfe des Ostreiches gegen alle der Staatskirche nicht Unterworfenen, die man als Bundesgenossen des an die Tore des Reiches pochenden Islam betrachtet. Nach Schätzungen armenischer und byzantinischer Chronisten sind allein bis zum Jahre 843 etwa 100000 Ketzer in Kleinasien und Nordsyrien hingerichtet worden oder auf der Flucht umgekommen.

Das enge Nebeneinanderleben von Christen und Wirrgläubigen aller Schattierungen im Emirat Malatia führte notwendigerweise auch zu Abfall, Spaltung und Erweichung des überlieferten Apostelglaubens. Antinomistische Richtungen, d. h. Richtungen, die erklärten, mit dem Aufheben des mosaischen /17/ Gesetzes sei das Ende jedes Gesetzes gekommen, daher könne auch kein wahrer Christ mehr sündigen, - gewannen selbst unter den Ältesten der Gemeinden Anhänger; so mußte sich die galatische Restgemeinde aus diesen Gründen von ihrem letzten überlebenden Ältesten Baanes trennen. Am härtesten aber prallten die Meinungen zusammen über die Frage des Waffengebrauches. Bis daher war es für alle neutestamentlichen Christen selbstverständlich gewesen, daß man gegen böse Menschen auch zur Selbstverteidigung nicht gewalttätig werden dürfe, - denn das ist doch offenbar die Bedeutung der Stelle Matth. 5:38-39. Nun aber erhoben sich unter dem Eindruck der grauenvollen Ausrottung ganzer Familien vom Säugling bis zum Greis in den benachbarten kaiserlichen Provinzen auch in den Reihen der Gemeindeglieder Stimmen, die zur Rettung dieser Unglücklichen mit dem Schwert in der Hand "Befreiungszüge" in das byzantinische Reich zu unternehmen vorschlugen Im Einverständnis mit der mohammedanischen Schutzmacht stellten sie ein "Christenheer" auf, dessen Befehlshaber einer der beliebtesten Ältesten, Karbeas, war. Die Gemeinde der Gewaltlosen mußte den schwerttragenden Brüdern erklären, daß sie damit sich außerhalb des Gottesvolkes gestellt hätten, denn "der Heilige Geist, der ja nur von dem nimmt und uns zuteilt, was Christus in seinem Vermächtnis uns offenbart hat, wird uns niemals dazu auffordern, für irgend ein geistliches Ziel mit anderen als mit geistlichen Waffen zu kämpfen; und Christus verbietet uns zu kriegen nicht nur für die Reiche dieser Welt, sondern auch für sein eigenes Gottesreich". - Es ist, wie immer, wenn die Entscheidungen des Neuen Testamentes dem sogenannten gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheinen, nur die Minderheit, die diesen konsequenten Standpunkt des Nichtwiderstehens dem Übel vertritt. Die große Mehrheit bejauchzt den Auszug der schwerttragenden Christen, bejauchzt die Nachricht von der Errettung einer Anzahl galatischer und phrygischer Gemeinden vor der völligen Vernichtung, jubelt, als der Schwiegersohn des Karbeas das alte Ephesus am Agäischen Meer mit seinen kurdischen Reitern erreicht und ist zu Tode betrübt, als die Nachricht eintrifft, daß das siegreiche Heer beim Rückmarsch mit mehreren hundert Flüchtlingen in den Pässen des Taurus in einen Hinterhalt gerät und im Jahre 871 bis auf den letzten Mann vernichtet wird. Die das Schwert ergriffen hatten - wenn auch für die beste und edelste Sache der Welt -, waren durch das Schwert umgekommen. - Die Gemeinde im Gebiet von Malatia tat Buße, und viele der Schwertanhänger versöhnten sich wieder mit Gott. Das gefiel aber dem kurdischen Emir, der /18/ diese Christen als wichtigen Stein auf seinem politischen Schachbrett hatte benutzen wollen, gar nicht. Nun begannen die Schikanen durch die Moslem. Die Steuer, die alle unterworfenen Nichtmohammedaner zahlen müssen, wird für die Gemeinden des Herrn verdreifacht, Herden werden gepfändet, Grundstücke enteignet, Bergweiden ihnen weggenommen. Nichts ist mehr zu merken von der anfänglichen Duldsamkeit der Moslem. Die Verfolgung kündigt sich an. Bald fallen die ersten Blutzeugen unter den Schwertern der Seldschukken. - Wie eine Himmelsbotschaft vernehmen in diesem Augenblick die Ausgewanderten, daß der Kaiser die Rückkehr aller Christen (Paulikianer und Thondrakier nennt er sie) nach Kleinasien gestatte, sofern sie feierlich auf jede Gewaltanwendung Verzicht leisten würden. Eine solche Erklärung kann abgegeben werden, und wenige Monate später ziehen über 80 000 Christen nach Phrygien Galatien und Lykaonien zurück. Nur die besonders Vorsichtigen bleiben in einigen Bergschlupfwinkeln des nördlichen Armenien in der Gegend von Thondrak, wo sie sich bis heute als kleine Gruppe von 28 Familien erhalten haben. Ihr Gefühl hatte sie nicht betrogen: siebzig Jahre nach der Rückkehr aus dem islamischen Machtbereich läßt der byzantinische Kaiser alle Ketzergemeinden seines asiatischen Reichsteiles nach Thrakien deportieren und dort bei Philippopel ansiedeln, dicht an der Militärgrenze gegen die noch heidnischen Bulgaren. Sie sollten gewissermaßen als Puffer zwischen den kriegerischen Barbarenvölkern des Balkan und der Kaiserstadt am Bosporus dienen. Jede Werbung für ihren "Irrglauben" war ihnen jedoch streng untersagt worden. Trotzdem machte das Leben und der schlichte Kult der Umsiedler auf die Bewohner ihrer neuen Heimat den tiefsten Eindruck. Schon vor der Jahrtausendwende läßt sich der ostkirchliche Priester Jeremias taufen; unter dem Decknamen Theophilos (slawisch: Bogomil, d. h. Gottesfreund) entfaltet er eine eifrige Wirksamkeit unter seinen Landsleuten und sogar unter den mystischen Mönchskreisen in den Einsiedeleien des Athosberges. Der Name "Bogomile" tritt nun in der Kirchenhistorie der Großsekten an Stelle des Namens "Paulikianer", deckt aber sehr verschiedene Strömungen. Altslawischer Götterglaube und finnisch-ugrischer Schamanismus der bulgarischen Herrenschicht verschmelzen in manchen Teilen des östlichen Balkan mit gnostisch-manichäischen Vorstellungen, die unchristliche Ketzergruppen, mit unseren Gemeinden gleichzeitig nach Bulgarien deportiert, mit sich gebracht hatten. In zahlreichen Diskussionen suchen sich die Geschwister gegen den Vorwurf zu wehren, sie hätten etwas mit diesen dualistischen Asketen- /19/ gruppen zu tun; es hilft nichts: die Hunderte von ernsten Jüngern Christi, die wegen Verkündigung der Lehre des Herrn, so wie sie von ihm auf den Bergen Galiläas gepredigt worden war, die Scheiterhaufen sowohl in Konstantinopel, der Residenz des Kaisers, als auch in Tirnowo, der Residenz des Bulgaren-Großchans, besteigen müssen, werden als "Anhänger des Zweigötterglaubens" verbrannt. - Trotzdem breitet sich die Botschaft von der Freiheit in Christo rasch immer weiter aus. 1071 entsteht schon in Kiew in der Ukraine eine erste Gemeinde von Evangeliums - Christen, die schweren Verfolgungen der Jahrzehnte von 1150 bis 1180 in Bulgarien und Serbien treiben die unermüdlichen Sendboten des Heilands weiter nach Norden und Westen. 1115 tauchen sie in Albanien, Bosnien, der Herzegowina und Dalmatien auf, wenige Jahre später bilden sich die ersten Gemeinden Christi in Nordost-Italien. Den äußerlich größten Erfolg haben sie in Bosnien zu verzeichnen, wo um die Wende des 13. Jahrhunderts nach Schätzungen der katholischen Inquisitoren 70 °/o der Bevölkerung sich zum "Bogomilismus" bekennen, der katholische Bischof Daniel in Poili 1198 sich in der Bosna taufen läßt und die prunkvollen Kirchen der morgen- und abendländischen Großsekten leer stehen. Hier an der Grenze des byzantinischen und römischen Kulturkreises rückt nun auch eine neue, zuerst nur vom Volk, dann, aber sehr ungern, auch von den Inquisitionsbehörden gebrauchte Bezeichnung der Altevangelischen in den Vordergrund, der Name "Katharoi", d. h. Reine. Er geht über das italienische "gazzari" in das Deutsche als Lehnwort "Ketzer" über. Viel lieber bezeichnet die romkatholische Gegenpropaganda aber die Gemeinden Gottes mit dem Namen "Pataria", d. h. Lumpenvolk. Alle erdenklichen Irrlehren und Greuel werden ihnen zugeschrieben, und wenn auch die auf der Folter erfolgten Aussagen einiger Gläubiger als Inhalt dieser Ketzerei nur die Nichtanerkennung des Klerus und der von ihm unter magischen Formeln gereichten Sakramente, die Bevorzugung des Neuen Testamentes vor dem Alten, aus dem man eigentlich nur die Psalmen und die prophetischen Bücher zitiert, die Verwerfung aller von den Konzilien formulierten Glaubensbekenntnisse und die Berufung auf das Wort des Herrn allein ergeben, so predigen die Bettelorden um so nachdrücklicher von den "unaussprechlichen Missetaten", die bei den Geheimversammlungen dieser Häretiker gang und gäbe seien. Jahrhunderte hindurch geisterten die aus den Fingern gesogenen Behauptungen der katholischen Missionsprediger nicht nur durch die römische Kirchengeschichte, - auch protestantische Nachschlagewerke übernahmen in vielen Fällen unbesehen die /20/ Produkte einer entfesselten Fanatikerphantasie. Erst im Jahre 1947 mußte der "Dictionnaire de théologie catholique" in seinem 9. Bande gestehen: "Die Anschuldigungen gegen die Katharer des 11. Jahrhunderts sind genau dieselben, die im 2. Jahrhundert im ganzen Römerreich gegen die Christen erhoben wurden: Unsittlichkeit, Ritualmord, Anbetung einer grotesken Götzengestalt." - Mehrere Kreuzzüge werden von beutelüsternen kroatischen, ungarischen und venetianischen Magnaten gegen das unglückliche Bosnien geführt. Sie scheitern am tapferen Widerstand gerade der nicht sich zu den Gemeinden Christi haltenden Ritter und Großgrundbesitzer des Landes, das unter Ban Twertko 1373 vom päpstlichen Legaten "die Banditenhöhle, in die sich alle Ketzer des Morgen- und Abendlandes flüchten", genannt wird. Erst dem Zusammenwirken der türkischen und der katholischen Heere im Jahre 1446 erliegt Bosnien. Aber 40 000 Christen verlassen das in die Hände der Un- und Abergläubigen gefallene Heirnatland und wandern in die schwer zugänglichen Berge der Herzegowina aus, wo die letzten kleinen Gemeinden Christi erst im Laufe des Jahres 1942 von Ustascha-Banden vernichtet wurden. - Letzte Nachricht von den alten Gemeinden um Thessalonich gelangt um das Jahr 1550 nach Zentraleuropa, als Sendboten der dortigen Christen nach Mähren kommen, um sich selbst von der Wahrheit der zu ihnen gedrungenen Gerüchte zu überzeugen, daß in diesem Lande die Bekenner der neutestamentlichen Wahrheit in Frieden und Wohlstand leben dürfen. Die Gemeinde in Saloniki ist kurz darauf einem Gemetzel zum Opfer gefallen, das aus den Türkenkriegen zurückkehrende mohammedanische Freischärler unter den "Ungläubigen" des alten Thessalonike anrichteten. Nur im Witoschmassiv bei Sofia lebten noch 1939 einige Familien "bogomilischen" Glaubens, geliebt von allen Armen und Unglücklichen ob ihrer selbstlosen Hilfsbereitschaft, bespitzelt und verfolgt von Obrigkeit und Kirche ob ihres kompromißlosen Bekenntnisses zu den Sätzen der Bergpredigt.

 Die seit etwa 1150 in Venetien und der Lombardei arbeitenden christlichen Wanderprediger kamen meistens aus Makedonien (Saloniki), Albanien (Koritza) und Dalmatien (Dragavitza), aber schon 70 Jahre später gibt es in Brescia und Viterbo Gemeinden von mehreren hundert, in Mailand, Ferrara und Florenz von mehreren tausend Mitgliedern. Von ihren Ältesten muß selbst der "Catholic Dictionary" von Addis und Arnold gestehen: "Diese Lehrer trugen eine große Einfachheit der Sitten, der Kleidung und der Lebensart zur Schau. Sie richteten ihre Angriffe gegen die Weltlichkeit des Klerus, und es /21/ war nur allzuviel Wahres in ihrem Tadel; so wurden ihre Hörer auch willig, alles andere zu glauben, was sie sagten, und das zu verachten, was sie verachteten." Der reformierte Kirchenhistoriker Walter Nigg erklärt: "Es ist unmöglich, von religiösem Interesse ausschließlicher erfüllt zu sein als die Katharer es waren . . . Die Katharer haben das Gute in seiner ganzen strahlenden Fülle gesehen. Großartiger und hinreißender kann vom guten Gott nicht geredet worden sein, als sie es getan haben... Diese Menschen empfingen den "Kuß Gottes", wie der Tod schon genannt wurde, in höchstem Jubel, indem sie voll seliger Todestrunkenheit dem Oberzeitlichen entgegenschritten." Trotz oder gerade durch die ungeheuerlichen Grausamkeiten, mit denen Kirche und Staat dem Weiterverbreiten der Heilswahrheit entgegentreten wollten, verbreitete sich die Botschaft von dem Erlöstsein aus lauter Gnade rasch über die Alpen. Dort stießen sie auf die kleinen Restgemeinden, die einst durch die Tätigkeit der Schüler Priszillians und iro-schottische Sendboten ins Leben gerufen und durch schwere Verfolgungen fast ausgerottet worden waren. 1052 läßt Kaiser Heinrich III. in Goslar "manichäische Häretiker" hinrichten, deren Verbrechen darin bestand, vor Mönchen gepredigt zu haben, alles, was zur Welt des babylonischen Tieres gehöre, müsse gemieden werden. Das allein sei das echte Fasten, das Christus von uns fordere. 1118 wird Gregorius Grimm in Ensisheim im Elsaß als "Patarener" gefoltert und vom Leben zum Tode gebracht, weil er von seinem Großvater getauft worden war, der wiederum vor 50 Jahren im Flüßchen Fecht von einem wandernden Kaufmann aus Venetien der Gemeinde Christi, die nach seinenWorten die einzige Kirche der Heiligen sei, zur Vergebung der Sünden untergetaucht worden war im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. 1143 werden am Niederrhein von Beauftragten des Bischofs von Köln ein Ältester und über 100 Altgläubige festgenommen, die auf der Folter bekennen, daß ihre Gemeinden überall verborgen vorhanden seien; ihr Schwerpunkt sei zurZeit in Graecia, womit ohne Zweifel das Byzantinische Reich gemeint ist. Von der Ketzerhochhurg Montwimer bei Châlons-sur-Marne, die schon 150 Jahre zuvor den Evangelisten Gundulf aus der Lombardei beherbergt hatte, der damals als Prediger der apostolischen Armut und Bekämpfer der Kindertaufe das wallonische und pikardische Gebiet Nordfrankreichs und Belgiens durchzog und in Lüttich sowohl als auch in Arras bedeutende Gemeinclen ins Leben gerufen hatte, ging die Gründung der Brüderschaft in Reims um das Jahr 1200 aus. Hier nannte man die neutestamentlichen Gläubigen Publicani, - wohl nicht, um /22/ sie als Zöllner und öffentliche Sünder zu brandmarken, sondern in Verstümmelung ihrer makedonischen Bezeichnung "Paulikanoi", die französische Krenzzugsteilnehmer mitgebracht hatten. - In der Provence und im sonstigen Südfrankreich ist es besonders der Schüler des scharfsinnigen und daher der Ketzerei verdächtigen bretonischen Denkers Abelard, Pierre de Bruys, der überall den Heroldsruf Christi erschallen läßt, bis er 1137 auf dem Scheiterhaufen stirbt. Ebenfalls von der vereinten staatlichkirchlichen Justiz liquidiert werden seine Freunde Heinrich, ein ehemaliger Zisterziensermönch aus Lausanne, und der Älteste Pontius aus Périgord. Für die zum Verstummen gebrachten Zeugen treten Wanderbrüder vom Balkan auf den Plan, so daß in weitenTeilen Frankreichs "Bulgare" gleichbedeutend mit Ketzer wurde und die Verstümmelung des Wortes, bougre, noch heute dort als eines der gemeinsten Schimpfwörter gebraucht wird. Im Jahre 1162 ist Flandern schon mit einem derartig dichten Netz von neutestamentlichen Kirchlein überzogen, daß die Gläubigen es wagen können, die Herren der Gegend, die Grafen von Flandern, die Herzöge von Artois und den Erzbischof von Cambrai, um Duldung ihrer öffentlichen Predigten zu bitten.

 Die kühne Verkündigung der frohen Botschaft des Neuen Bundes hatte nicht nur die rasche Bildung von Gemeinden, sondern - wie stets in solchen Fällen - auch das Auftreten von Schwarmgeistern und Büßern aller Art zur Folge. Ein wahrer Rattenkönig von Irrlehren kommt nun zutage, - nicht die Folge der Verbreitung der Bibelkenntnis durch die Wanderprediger, wie die katholischen Historiker polemisieren, sondern die Folge jener haarsträubenden Unkenntnis über die wirklichen Heilstatsachen, in der eine gewissenlose Priesterclique die ihnen anvertrauten Seelen erhalten hatte. Die Verfolgung, die mit voller Wucht einsetzte, warf natürlich alle die grundverschiedenen und sich scharf gegeneinander abgrenzenden oppositionellen Richtungen in einen Topf; halb irre manichäische Asketen, die die Krönung ihres Lebens im Todfasten sahen, und die Freuden dieser Welt, oder was sie dafür hielten, in vollen Zügen genießende ausschweifende Freigeister, Hysteriker und Psychopathen, die sich für Menschwerdungen Christi oder Marias ausgaben und ihre wirren Halluzinationen für das zu ihnen sprechende innere Wort Gottes hielten, und streng biblizistische, dem Geist des Neuen Testamentes nachlebende Altgläubige wurden mit den Sammelnamen "Albigenser" (nach einem der Mittelpunkte der religiösen Gärung in Südfrankreich, Albi, genannt) bezeichnet und zum Ziel aller Ausrottungsmaßnahmen gemacht. Es nützte nichts, daß Fürsten und Edle dieser Gegenden /23/

es zuerst strikt ablehnten, die wahren Nachfolger des Herrn zu verfolgen, sahen sie doch in diesen einfachen, nüchternen, arbeitsamen Menschen, die ihren Verpflichtungen stets getreu nachkamen, die überall ob ihrer unbedingten Wahrheitsliebe geachtet waren und die in manchen Gewerben, so z. B. in den Zünften der Steinmetzen und Weber, führend waren, einen besonderen Schatz ihres Landes, den es zu hüten galt. Vor allem war es der junge Vicomte Roger Ramon Trencavel aus westgotischem Uradel und der tatkräftige Capitoul (Oberbürgermeister) von Toulouse, Peire Mauran, die sich der Sache der von der Inquisition Bedrohten annahmen. Trotz ihrer energischen Vorstellungen brach im Jahre 1208 das Unwetter los, als ein päpstlicher Legat, der den mächtigen Grafen von Toulouse, einen freigeistigen und keineswegs besonders religiösen Menschen, in öffentlichen Predigten schwer beleidigt hatte, dafür von einem Gefolgsmann des Grafen erschlagen worden war. Ein Kreuzheer unter dem schon lange nach dem Besitz der reichen, gewerbefleißigen Languedoc lüsternen Königs von Frankreich marschierte in die Ketzergebiete ein, erstürmte unter furchtbarem Gemetzel unter Katholiken, Schwärmern und Christen eine Stadt nach der anderen und machte in den über 30 Jahre lang wütenden Rachezügen aus dem Land eine fast menschenleere Wüste. Die französischen Geschichtsschreiber schätzen die Zahl der durch direkte Kriegseinwirkung Umgekommenen in der Languedoc für die Jahre 1208 bis 1244 auf rund 1,5 Millionen, dazu kommen noch die Zahlen der dem Kreuzzug folgenden Epidemien und Hungersnöte und die der Opfer der Inquisitionsgerichte.

 Das Konzil der katholischen Bischöfe in Toulouse vom Jahre 1229 erließ zur Verfolgung der Ketzer Bestimmungen, deren wichtigste folgende sind: Jeder weltliche oder geistliche Vorgesetzte, der einen Ketzer verschont, soll des Landes, Amtes oder Besitzes verloren gehen; jedes Haus, in dem ein Ketzer gefunden wird, soll niedergerissen werden; zu Ketzern und der Ketzerei Verdächtigen soll auch bei schwerster Erkrankung kein Arzt zugelassen werden; Mitschuldige, auch Verbrecher, werden als gültige Zeugen gegen Ketzer zugelassen; Geständnisse können durch Foltern erzwungen werden; schon der Verdacht der Ketzerei berechtigt zur Verhaftung; die Strafen für Ketzerei stufen sich von Verlust der Bürger- und Kirchenrechte über Vermögenseinziehung und Einkerkerung bis zur Hinrichtung, die auch wieder je nach der Schwere des Falles von einfacher Enthauptung oder Ertränkung zum langsamen Erdrosseln durch die Garotte und schließlich zum schnellen, durch Pulversätze /24/ herbeigeführten, oder zum langsamen Tod auf dem Scheiterhaufen abgestuft war. Das beschlagnahmteVermögen der Ketzer fiel zu zwei Drittel den Inquisitionsbehörden, zu einem Drittel dem Denunzianten zu. Damit es aber nicht den Anschein habe, als dürste die immer noch sich christlich nennende Staatskirche nach Blut, wurden die weltlichen Herrscher verpflichtet, der geistlichen Untersuchungsbehörde ihren Arm zu leihen und die Henkersdienste an den Verurteilten zu verrichten. Mit Recht sagt der französische Geschichtsschreiber Charles Molinier in seiner Veröffentlichung eines Berichts über die "katharischen" Ketzer des 13. Jahrhunderts aus katholischen Quellen: "Man kann unter keinen Umständen der Stimme von Richtern Glauben schenken, die allzu oft auch die Henker waren."

 Überreste der altevangelischen Gemeinden Südfrankreichs erhielten sich in den durch den reichen Kaufmann Pierre Valdès aus Lyon gestifteten "Lyoner Armen", die nach ihrem Stifter "Waldenser" genannt wurden und neutestamentliches Christentum mit katholischen Mönchsidealen eigenartig verbanden. Ihr Missionseifer führte sie bald in Gegenden außerhalb Frankreichs, in denen sie noch intakte kleine Gemeinden Christi antrafen: in das Berner Oberland, in den Jura und die Vogesen, zu den Brüdern am Niederrhein und in Friesland, ja bis nach Brandenburg und Böhmen. Daß die Erinnerung an die alten Gemeinden vorwaldensischer Art noch sehr lebhaft war zeigt der Bericht über den Flammentod der Frau Lucardis in Trier im Jahre 1229, die auf dem Scheiterhaufen Gott dafür dankt, daß sie dort leiden kann, wo schon vor vielen hundert Jahren ein treuer Bekenner der Glorie Christi sein Leben für den Heiland gelassen hat. - Im Jahre 1400 trifft die vielleicht älteste Gemeinde Deutschlands, Straßburg, in der es nach der Uberlieferung der elsässischen Altevangelischen schon zur Zeit Julians des Abtrünnigen neutestamentliche Christen gegeben haben soll, ein vernichtender Schlag: bei einer Razzia werden auf Grund einer Denunziation 32 "Winkler", wie das Volk hier die Altgläubigen wegen ihrer geheimen Zusammenkünfte in alten Winkeln und Kellergewölben nannte, festgenommen, der Folter unterworfen und dabei grausam verstümmelt. Man erpreßt von ihnen das Zugeständnis, daß ihre einzige Autorität nicht die Kirche, sondern das Neue Testament sei, das in der Landessprache studiert werden müsse. Sie verwerfen jede Anrufung Mariae und der Heiligen und jede Verehrung von Bildern oder Kruzifixen; sie leugnen die Vollmacht der priesterlichen und bischöflichen Weihen mitsamt der Schlüsselgewalt des Klerus. Von Feiertagen behalten sie nur Karfreitag, Ostern, /25/  Pfingsten und die ersten Wochentage bei. Die Taufe der Kinder nennen sie zwecklos, da in den Kleinen noch kein Glaube vorhanden sein könne. - Nur das Eingreifen des den Ketzern wohlgesonnenen Johanniterkomturs und des Stadtschreibers Johann v. Blumstein rettet die Festgenommenen vor dem Scheiterhaufen. Sie werden "auf ewige Zeiten" aus der Stadt verbannt und tauchen in die Einsamkeit der Vogesentäler und des Jura unter.

 Während Kaiser und Päpste in der Unterdrückung der kleinen Gemeinden Christi wetteiferten (von 1300 bis 1500 erlitten in Mitteleuropa mindestens 2000 Christen einen schauerlichen Tod), offenbarte sich die schon längst schwärende Verderbnis der Staatskirche in ihrer übelsten Form. Selbst den Römern wurde das Treiben der sich dreist "Stellvertreter Gottes" nennenden obersten Kirchenfürsten zu viel. Von 1307 bis 1378 waren die Päpste gezwungen in Avignon in der Provence zu leben, wo sie nur allzu willfährige Werkzeuge der französischen Könige wurden. Und von 1378 an gab es für fast ein halbes Jahrhundert zwei miteinander rivalisierende und sich gegenseitig exkommunizierende Päpste, einen in Frankreich und einen in Italien, von denen jeder behauptete, der allein vom Heiligen Geist durch die Stimmen der Kardinäle gewählte und daher rechtmäßige Nachfolger Petri zu sein und von denen jeder sich bemühte, zur Bestreitung der Kosten des luxuriösen Hofstaates und anderer kostspieliger Neigungen das Menschenmögliche an Geldgaben aus den Gläubigen herauszupressen. John Wyclif, einer der tapfersten katholischen Theologen seiner Zeit, der in England mit Unterstützung des Königs den Nachweis führte, daß die weltliche Herrschaft der Kirche schriftwidrig und ihre Transsubstantiationslehre (Verwandlung des Brotes und des Weines beim Herrenmal in wirkliches Fleisch und Blut des Heilands durch das magische Wort des Priesters) okkultistische Zauberdoktrin sei, errechnete, daß der Papst doppelt soviel Geld aus England zog, wie die Abgaben des Volkes an den König betrugen. Die Moral des schlecht bezahlten niederen Klerus und des völlig verweltlichten höheren sank auf den niedrigsten Grad seit dem Großen Abfall unter Konstantin. Nationalstolz der von Rom ausgeplünderten Völker und das immer noch wache religiöse Gewissen einiger Geistesführer und der bisher so gutgläubigen Volksmassen verbanden sich im Groll gemeinsam erduldeter Schmach. Wyclif erklärte unerschrocken: "Oberhoheit und Besitzanspruch geistlicher und weltlicher Herren beruht auf ihrem Lebensverhältnis zu Gott, ihrem obersten Souverän. Wer aber nicht mehr in dessen Gnade steht, der hat sowohl die Vollmacht zu regieren als auch das freie Verfügungsrecht über seinen /26/ Besitz verwirkt. Das gilt auch für den Papst, der die Kirche nur als einen erweiterten Sprengel seines römischen Bistums ansieht. Die wahre Kirche ist aber nur der Leib Christi, die Gemeinschaft aller durch Gottes Ratschluß Erwählten." Das Redeverbot des Papstes und die bald darauf folgende Exkommunizierung konnten wohl dem kühnen Theologen zum Aufgeben seines Lehrstuhls in Oxford, aber nicht zum Einstellen seiner antipäpstlichen Propaganda zwingen. Von seiner reichen Landpfarrei Lutterworth aus sandte er seine Freunde und Schüler als Wanderprediger durch das Land. Das Volk nannte die nach apostolischem Vorbild einfach gekleideten und unbesoldeten Evangelisten "Arme Priester", die Bischöfe aber predigten gegen die neue Ketzerei als gegen das Unkraut (lollium), das der böse Feind unter den Weizen der Kirche gesät habe, und nannten die Träger der befreienden Botschaft von der geistlichen Ohnmacht der päpstlichen Hierarchie Lollharden. Es schien, als ob die schon längst erstorbenen neutestamentlichen Gemeinden der britischen Inseln, von deren Existenz letzte Spuren nach dem Jahre 1390 nicht mehr wahrzunehmen gewesen waren, wieder zum Leben erwachten. Die aber unmittelbar nach dem Tode Wyclifs einsetzende Verfolgung, an der auch der durch die Gärung unter den Bauern entsetzte junge König sich eifrigst beteiligte, vernichtete mit blutiger Hand alle jungen Keime der Gottessaat. Ende Dezember 1417 mußten allein in London 45 Lollharden den Scheiterhaufen besteigen; ihr tapferer Beschützer, der greise Edelmann Sir John Oldcastle, entging nicht demselben Schicksal, jedes Jahr von 1418 bis 1488 brachte mindestens einen großen Prozeß gegen sie, und noch kurz vor Beginn der Reformation wurden dreißig von ihnen in Amersham gefoltert und verbrannt.

 Die Funken der englischen Scheiterhaufen aber flogen über ganz Mitteleuropa und fielen in Böhmen in die Herzen junger katholischer Theologen, die unter ähnlichen Verhältnissen schon zu ähnlichen Formulierungen wie Wyclif gekommen waren: Jan Hus, Prediger an der Universität zu Prag, und sein Freund Hieronymus. Vor das Konzil zu Konstanz zitiert, das zusammengerufen worden war, um den Streit zwischen drei gleichzeitig regierenden Päpsten zu schlichten und die Kirche angeblich an Haupt und Gliedern zu reformieren, wird Hus als Gebannter trotz des vom Kaiser endlich zugesagten freien Geleites am 28. November 1414 festgenommen und im bischöflichen Schloß Gottlieben Tag und Nacht in Ketten gehalten. Bei seinen Verhören erklärt er die Heilige Schrift zur obersten Instanz in allen Fragen des Glaubens, definiert die /27/ Kirche gut lollhardisch als die Gesamtheit der von Gott Erwählten und verwirft jeden geistlichen, juristischen oder weltlichen Hoheitsanspruch des Papstes, der für ihn nur "der Bischof von Rom" ist. Da er jeden Widerruf verweigert, wird er zum Tode verurteilt und am 6. Juli 1415 am See-Ufer verbrannt.

 Als die Nachricht von diesem ungeheuerlichen Wortbruch des Kaisers und dem heiligmäßigen Tode des Gottesmannes nach Böhmen gelangte, entstand eineVolkserhebung ungeahnten Ausmaßes. In Prag erschlägt die wütende Volksmenge hohe Kleriker, die als Gegner des Hus bekannt waren. Der böhmische Landtag der sofort zusammentritt, verpflichtet sich feierlich vor Gott, die Predigt des reinen Gotteswortes mit allen Kräften zu schützen, schriftwidrigen Bannsprüchen sich zu widersetzen und das Andenken des Blutzeugen in Ehren zu halten. Und damit begann ein Krieg, dem an Blutdurst, raffinierter Grausamkeit und Verwüstungswut nur wenige in der Geschichte gleichkommen, Fünf Krenzzugsheere setzen sich von 1420 bis 1431 gegen das ketzerische Land in Bewegung, aber allen werden vom tschechischen Volksaufgebot die furchtbarsten Niederlagen beigebracht. Die Husiten ergriffen sogar die Offensive und zogen von Mai 1427 ab plündernd, sengend und mordend bis nach Brandenburg, Thüringen und Bayern.

 In diesen Jahren des Blutvergießens und Schreckens litten auch die Gemeinden neutestamentlicher Christen unsäglich. Die kleine alte Gemeinde in Regensburg wird aufgestöbert, ihr Ältester Grüneisen mit drei anderen Mitgliedern als "Bundesgenosse der Husiten" unter fürchterlichen Martern hingerichtet. Ähnlich ergeht es den Gemeinden in Dresden, der Lausitz und der Ukermark. Am Rhein verbrennt man den sächsischen Edelmann Heinrich von Schlieben als angeblichen husitischen Spion, selbst in Nordfrankreich fallen kleine Gruppen Altevangelischer der Ausrottung anheim; die Beschuldigungen gegen sie lauten auf "Hetze zur Praguerie", womit man die Ermordung katholischer Geistlicher meinte, wie sie in den Julitagen 1415 in Prag vorgekommen war. Jahrelang bemühen sich die Spürhunde des Herrn, wie sich die im Dienst der Inquisition stehenden Dominikaner selbst stolz nannten, den geheimen Verbindungsfäden nachzuforschen, die unzweifelhaft die zerstreuten kleinen Gemeinden irgendwie miteinander verbinden. Solche Verbindungen sind da: Gemeinden in Flandern wissen über das Auftreten schwärmerischer chiliastischer Bewegungen unter den Gläubigen in der Ukraine Bescheid, catalanische Christen gestehen auf der Folter, mit Gemeinden in Süditalien in Briefwechsel zu stehen, englische Wanderprediger werden in Schlesien festgenommen. In /28/ (to be continued ...)